Willy Jesse wurde 1897 in einem Arbeiter:innen-Haushalt in Rostock geboren. Der gelernte Maschinenbauer ging nach seiner Ausbildung auf Wanderschaft und trat 1912 in die SAJ (Sozialistische Arbeiter-Jugend) ein, dem damaligen Jugend-verband der SPD. Im Kriegsjahr 1915 trat er mit 18 Jahren der SPD bei und wurde zum Kriegsdienst eingezogen. Er überlebte den Ersten Weltkrieg und ging nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst zurück nach Rostock, wo er 1920 das Mitteilungs-blatt der SAJ in Mecklenburg mit verantwortete. Er machte als begabter Parteifunktionär schnell Karriere und wurde 1927 in die Stadtverordnetenversammlung von Rostock und 1932 in den Landtag des Landes Mecklenburg-Schwerin gewählt. Nach der Machtergreifung der Nazis wurden ihm seine Mandate entzogen und er gehörte als Parteisekretär des SPD-Bezirks Mecklenburg-Lübeck zu den ersten, die nach Verbot der SPD für mehrere Wochen in „Schutzhaft“ genommen wurden.

Nach seiner Entlassung eröffnete Jesse, wie viele ehemalige SPD-Funktionäre, ein Kaufmanns-geschäft in einem Haus in der Ottostraße, das heute nicht mehr existiert. Das war einerseits ein Ausweg aus der Arbeitslosigkeit, da ehemalige führende Sozialdemokraten häufig keine Arbeit erhielten, und bot zugleich die Chance, verhältnismäßig unbehelligt mit Gleichgesinnten in Kontakt zu treten. Das Geschäft lief gut, viele ehemalige Genoss:innen kauften bei Jesse – schnell wurde im Viertel der Slogan „Alles, was ich esse, kaufe ich bei Jesse“ populär. Das erlaubte Jesse sogar die Anschaffung eines Lieferwagens, was die Pflege seiner illegalen Verbindungen deutlich erleichterte.

Jesse beteiligte sich illegal an der Verbreitung von Informationsmaterial über die NS-Diktatur. Besonders spektakulär war der Abwurf von Flugblättern mit einem Sportflugzeug über einer Nazi-Kundgebung im Barndorfer Wald. Auch die erfolgreiche Flucht mehrerer Genossen nach Skandinavien unterstütze er. Zwischen 1933 und 1935 reiste er als Verbindungsmann mindestens einmal zum Vorstand der Exil-SPD nach Prag. Bei Kriegsausbruch wurde Jesse zur Wehrmacht eingezogen, wurde jedoch aus Altersgründen bald wieder entlassen und zum „Sicherheits- und Hilfsdienst“ der Neptunwerft überstellt. Seine geschäftlichen Tätigkeiten führten Jesse darüber hinaus öfter nach Berlin, wo er Kontakte zu anderen im Untergrund operierenden Sozialdemokraten pflegte. Mit der immer engmaschigeren Überwachung durch die Gestapo, verschlechterten sich die Möglichkeiten zur illegalen Tätigkeit immer weiter.

Zu seinen Kontakten gehörten die ehemaligen SPD-Reichstagsabgeordneten Julius Leber und Gustav Dahrendorf, die in die Arbeit des Kreisauer Kreises eingebunden waren. Von ihnen wurde Jesse um die Jahreswende 1942 zu 1943 in die Arbeit des Widerstands eingeweiht, dass das Hitler-Attentat organisatorisch vorbereitete. Jesse sollte dabei den Umsturz in Mecklenburg organisatorisch begleiten, stand in Austausch mit Leber und wäre nach gelungenem Umsturz Zivilbevollmächtigter für Mecklenburg der provisorischen Reichsregierung geworden. Hierzu zog Jesse im Frühsommer 1944 mehrere Sozialdemokraten in Rostock ins Vertrauen.

Nachdem Scheitern der Attentäter am 20. Juli 1944 gelangte auch die Rostocker Gruppe ins Visier der Gestapo. Eine Mitwisserschaft wurde jedoch zunächst nicht aufgedeckt. Schließlich wurden die Mitglieder der Gruppe verhaftet. Jesse gelang es, den Gestapo-Beamten durch ein Toilettenfenster zu entkommen, die sich bereits in seinem Haus befanden. Es existieren mehrere Versionen der abenteuerlichen Flucht. Teile des Weges hat Jesse mit dem Fahrrad, in vorbereiteten Fluchtfahrzeugen und mit der Eisenbahn zurückgelegt. Nach geglücktem Grenzübergang nach Dänemark halfen ihm Genossen im Untergrund in Kopenhagen bei der Weiterreise. Am 18. September 1944 erreichte er Stockholm, wo er mit den dort im Exil lebenden Sozialdemokraten schnell Kontakt aufnahm und Informationen zum gescheiterten Umsturz des NS-Regimes teilte.

Ein Jahr später gelangte er nach Rostock zurück, wo er sofort in führender Position in der sich bereits wieder im Aufbau befindlichen SPD tätig wurde. Seit dem 7. Oktober 1945 gehörte er dem Landesvorstand als 2. Vorsitzender an. Obwohl die sowjetische Militärregierung die KPD deutlich begünstigte, entwickelte die SPD im neuen Land Mecklenburg eine enorme Anziehungskraft und hatte kurz vor der Zwangsvereinigung mit der KPD mit 81.000 Mitgliedern mehr als fünfzwanzigmal so viele Mitglieder wie heute.

Jesses Haltung zur letztlichen Zwangsvereinigung von SPD und KPD war von Vorbehalten geprägt und er versuchte sie im Sinne der SPD auszugestalten. So sollten Basisorganisationen ihr starkes Gewicht behalten und eine demokratische Organisation der Partei sichergestellt werden. Letztlich akzeptierte er den Wunsch vieler Mitglieder und ging aufgrund des Votums des SPD-Parteitags als Landessekretär im März 1946 in die erste paritätisch mit SPD- und KPD-Funktionären besetzte Führung der SED in Mecklenburg. Jesse verzögerte jedoch den Umzug in die neuen Parteibüros und nutzte die Chance, um eine Reihe von Unterlagen, Briefen und Adressen zu vernichten.

Innerhalb der SED setzten bald Bestrebungen ein, den sozialdemokratischen Teil der Partei zu marginalisieren. Jesse versuchte, sich zu widersetzen, und prangerte die Stalinisierung der Partei an. Im Juli 1946 wurde er vom sowjetischen Geheimdienst NKWD aufgrund fingierter Spionagevorwürfe verhaftet. Er blieb bis 1950 ohne Anklage in Berlin-Hohenschönhausen in Untersuchungshaft, weil er zu keinem Geständnis bereit war. Später ließ Wilhelm Pieck verbreiten, dass Jesse für den britischen Geheimdienst gearbeitet hätte. Anschließend wurde Jesse per Fernurteil in der Sowjetunion zu 10 Jahren Zwangsarbeit in sowjetischen Lagern verurteilt und nach Sibirien verschleppt. Erst 1953 wurde er amnestiert und gelangte 1954 in die Bundesrepublik. Anschließend arbeitete er bis 1964 als Abteilungsleiter und Redakteur in Bonn für den Parteivorstand der SPD. Willy Jesse nahm sich am 17. August 1971 in Eutin das Leben. 1998 wurde er von der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation rehabilitiert.

Artikel aus der Ostsee-Zeitung vom 18. Dezember 2017
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